In einer Zeit, in der Singles und Streaming-Playlists dominieren, mag das Konzeptalbum wie ein Relikt vergangener Tage erscheinen. Doch in den 1970er Jahren, dem goldenen Zeitalter des Progressive Rock und des künstlerischen Ausdrucks in der Musik, war es die Königsdisziplin. Ein Konzeptalbum ist weit mehr als eine Sammlung von Songs; es ist eine zusammenhängende Erzählung, eine thematische Erkundung oder eine abstrakte Idee, die sich durch die Musik, die Texte, das Artwork und manchmal sogar die Live-Performance zieht. Pink Floyds „The Wall“ ist ein Paradebeispiel für eine Rockoper, die eine tiefgründige Geschichte erzählt, aber auch andere Bands wagten sich in die komplexen Welten der Konzeptkunst.
Die Geburtsstunde des Konzeptalbums: Ein Überblick
Obwohl bereits in den 1960er Jahren Alben wie The Beatles‘ „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ (1967) oder The Who’s „Tommy“ (1969) als frühe Konzeptalben gelten, erreichte das Genre in den 70ern seinen Höhepunkt. Die fortschreitende Studiotechnik, der Aufstieg des LPs als primäres Veröffentlichungsformat und der Wunsch nach künstlerischer Tiefe trieben Bands dazu an, ganze Alben als zusammenhängende Werke zu gestalten.
Die Themen waren vielfältig:
- Science-Fiction und Fantasy: Geschichten über dystopische Zukünfte, Reisen durch das All oder fantastische Königreiche (z.B. Rush‘ „2112“, Yes‘ „Tales from Topographic Oceans“).
- Philosophie und Psychologie: Erkundungen der menschlichen Psyche, Existenzfragen oder gesellschaftliche Kommentare (z.B. Pink Floyds „The Dark Side of the Moon“ oder „Animals“).
- Sozialkritik und Politik: Kommentare zu Krieg, Armut oder Ungerechtigkeit (z.B. Marvin Gayes „What’s Going On“).
- Historische oder literarische Erzählungen: Musikalische Umsetzungen von Mythen, Legenden oder literarischen Werken (z.B. Jethro Tulls „Thick as a Brick“ als Satire auf ein Gedicht).
Die Alben wurden zu immersiven Erlebnissen, oft begleitet von aufwendigen Gatefold-Covern und detaillierten Booklets, die die Geschichte vertieften und dem Hörer eine zusätzliche Ebene der Interaktion boten.
The Alan Parsons Project: Meister der Esoterik und des Klangs
Neben Giganten wie Pink Floyd stach The Alan Parsons Project als Meister des Konzeptalbums hervor, oft mit einem besonderen Hang zu mystischer, symbolischer und sogar esoterischer Thematik. Geleitet von dem genialen Produzenten und Toningenieur Alan Parsons (bekannt für seine Arbeit an Pink Floyds „The Dark Side of the Moon“) und dem Songwriter Eric Woolfson, war jedes ihrer Alben ein sorgfältig ausgearbeitetes thematisches Werk.
Ihre Alben zeichneten sich durch eine einzigartige Mischung aus Progressive Rock, Pop, Elektronik und oft orchestralen Elementen aus, stets mit Alan Parsons‘ makellosem Produktionsgeschick. Die Alben waren nicht nur musikalische Reisen, sondern auch visuelle Statements, oft mit ikonischen Covern von der legendären Designschmiede Hipgnosis.
- „Tales of Mystery and Imagination“ (1976): Das Debütalbum war eine Hommage an die makabre und psychologisch dichte Welt von Edgar Allan Poe. Die Texte erzählten seine Geschichten neu, und das Artwork von Hipgnosis spielte mit Poes Obsessionen wie der Entombment (Eingrabung). Das wiederkehrende Motiv des „taped man“ – einer mumienartigen Figur, eingewickelt in Tonband statt Bandagen – verwies subtil auf Poes Faszination für das Begrabenwerden bei lebendigem Leibe und gleichzeitig auf den Entstehungsprozess des Albums im Studio. Die Illustrationen im Booklet vertieften diese beklemmende Symbolik.
- „I Robot“ (1977): Inspiriert von Isaac Asimovs Science-Fiction-Klassiker, erforschte dieses Album die Beziehung zwischen Mensch und Maschine, die potenzielle Tyrannei der Technologie und die philosophischen Implikationen künstlicher Intelligenz. Das Cover, das einen Roboter auf einer Rolltreppe zeigt, die von Menschen bewohnt wird, verdeutlicht die subtile Infiltration der Maschinen in unser Leben. Die menschlichen Gesichter im Hintergrund des Roboterkopfs erinnern an die Abhängigkeit oder Verflechtung der beiden Spezies.
- „Pyramid“ (1978): Dieses Album tauchte tief in die Mystik des alten Ägypten, die „Pyramidenkraft“ und den Okkultismus ein. Die Idee der Pyramiden als Quellen mystischer Energie war in den 70er Jahren ein beliebtes Thema. Das Cover zeigt einen Pyramidenbau, der durch einen riesigen Schlitz in der Wüste in ein modernes Casino übergeht – eine spielerische Anspielung auf die menschliche Faszination für verborgene Kräfte und den kommerziellen Missbrauch von Mysterien. Alan Parsons selbst wurde auf einem inneren Cover in Pyjama gezeigt, aus dem halluzinatorische Dampfspuren aufsteigen – eine witzige Selbstreferenz auf die esoterischen Themen.
- „Eve“ (1979): „Eve“ befasste sich mit den weiblichen Archetypen, der Verführung, dem Verlust der Unschuld und dem Konflikt zwischen den Geschlechtern. Das Cover zeigte drei verschleierte Frauen, deren Gesichter von Dornen gekrönt sind – eine starke, ambivalente Symbolik für die Komplexität weiblicher Macht und des Leidens.
- „The Turn of a Friendly Card“ (1980): Dieses Album thematisierte die Risiken des Glücksspiels, des Schicksals und der Abhängigkeit. Die Symbolik des Spiels, des Zufalls und der damit verbundenen menschlichen Schwächen zog sich durch alle Songs und das Artwork.
Die Bedeutung des Konzeptalbums heute
Das Konzeptalbum war ein Medium, das es Künstlern ermöglichte, ihre kreative Vision in einem umfassenden und mehrdimensionalen Format zu präsentieren. Es forderte die Hörer heraus, über den einzelnen Song hinauszuhören und sich in eine tiefere narrative oder thematische Welt einzufühlen. Während der Mainstream der Musikindustrie heute oft auf schnelle Konsumierbarkeit setzt, bleibt das Konzeptalbum ein Zeugnis für die künstlerische Ambition und die Fähigkeit der Musik, komplexe Ideen zu transportieren und Geschichten zu erzählen, die über die reine Melodie hinausgehen. Die mystische Symbolik und tiefgründigen Themen von Bands wie The Alan Parsons Project bleiben dabei ein faszinierendes Beispiel für die kreative Freiheit, die dieses Format einst bot.