In der Ära von TikTok-Viralität und datengetriebenem A&R (Artist & Repertoire) hat sich der Einstieg in die Musikindustrie radikal beschleunigt. Wo früher jahrelange Ochsentouren durch Clubs nötig waren, reicht heute ein 15-sekündiger Clip, um das Interesse der Major-Labels zu wecken. Doch hinter den glänzenden Fassaden der Glaspaläste in Berlin, London oder New York verbirgt sich oft eine Vertragsarchitektur, die darauf ausgelegt ist, das unternehmerische Risiko komplett auf den Künstler abzuwälzen.

Wer die folgenden „Red Flags“ ignoriert, unterschreibt oft nicht seinen Durchbruch, sondern das Ende seiner künstlerischen Selbstbestimmung.

1. Die Laufzeit-Falle: „Options“ statt Sicherheit

Labels binden sich ungern fest, wollen den Künstler aber so lange wie möglich halten.

  • Die Red Flag: Verträge, die eine feste Laufzeit von einem Album vorsehen, dem Label aber das einseitige Recht auf drei, vier oder fünf weitere „Optionen“ einräumen.
  • Die Konsequenz: Wenn du erfolgreich bist, hält dich das Label jahrelang zu den alten, schlechten Konditionen fest. Wenn du flopst, lässt man dich fallen. Es ist eine Einbahnstraße der Loyalität. Achte darauf, dass Optionen an Bedingungen (z. B. Chartplatzierungen oder Verkaufszahlen) geknüpft sind oder die Vergütung bei jeder Option massiv steigt.

2. Der „Recoupment“-Dschungel: Schulden ohne Ende

Wie bereits erwähnt, ist der Vorschuss ein Darlehen. Aber die Industrie geht weiter:

  • Die Red Flag: Klauseln, nach denen nicht nur der Vorschuss, sondern auch Marketingkosten, Videoproduktionen, Tour-Support und sogar die Kosten für das Mastering vom Anteil des Künstlers abgezogen werden (100% Recoupable).
  • Die Konsequenz: Das Label gibt 100.000 Euro für Werbung aus. Da du aber nur ca. 15 % der Einnahmen erhältst, musst du ca. 660.000 Euro erwirtschaften, nur um die Werbekosten des Labels abzuzahlen. In der Praxis bedeutet das: Du hast einen Hit, aber dein Konto bei der Plattenfirma zeigt immer noch ein Minus.

3. Cross-Collateralization: Die Querverrechnung

Dies ist eine der gefährlichsten juristischen Fallen für Künstler mit mehreren Veröffentlichungen.

  • Die Red Flag: Das Label verrechnet die Gewinne aus Album B mit den noch nicht zurückgezahlten Schulden aus Album A.
  • Die Konsequenz: Selbst wenn deine zweite Single durch die Decke geht, siehst du kein Geld, weil das Label damit die Verluste des ersten (gescheiterten) Versuchs ausgleicht. Bestehe darauf, dass jedes Projekt finanziell für sich allein steht (Uncross-collateralized).

4. Die „360-Grad“-Klausel: Beteiligung an allem

Früher verdienten Labels nur an den Tonträgern. Da diese Einnahmen durch Streaming gesunken sind, greifen sie heute nach allem.

  • Die Red Flag: Das Label fordert Prozente von Live-Gagen, Merchandising, Sponsoring-Deals und sogar Einnahmen aus Schauspiel- oder Buchprojekten.
  • Die Konsequenz: Das Label wird zum stillen Teilhaber deines gesamten öffentlichen Lebens, ohne oft eine Gegenleistung im Bereich Booking oder Merch-Logistik zu erbringen. Wenn ein Label 360 Grad will, muss es auch 360 Grad leisten – also echte Agenturarbeit leisten.

5. Transferability & Change of Control: Du bist eine Ware

  • Die Red Flag: Das Label darf den Vertrag ohne deine Zustimmung an eine andere Firma verkaufen oder übertragen.
  • Die Konsequenz: Du unterschreibst bei einem coolen Indie-Label wegen der persönlichen Betreuung. Drei Monate später wird die Firma von einem gesichtslosen Major geschluckt, und dein Ansprechpartner wird gefeuert. Du bist nun eine Akte in einem Konzern, der deine Musik nicht versteht.

6. Creative Control: Wer hat das letzte Wort?

  • Die Red Flag: Das Label hat das Recht, Aufnahmen als „technisch oder kommerziell unzureichend“ abzulehnen.
  • Die Konsequenz: Das Label kann dich zwingen, Songs so lange umzuschreiben, bis sie in das aktuelle Radio-Format passen. Deine künstlerische Vision wird dem Algorithmus geopfert.

Fazit: Das Wissen ist die Macht

Die moderne Musikindustrie funktioniert nach dem Prinzip der Informationsasymmetrie: Die Labels kennen die Zahlen und die juristischen Kniffe, der junge Musiker hat nur seinen Traum. Wer heute bestehen will, muss sich wie ein Startup-Gründer verhalten: Kenne deine Zahlen, behalte deine Master-Rechte so lange wie möglich und betrachte einen Major-Deal nicht als Ziel, sondern als eine von vielen Vertriebsoptionen.

Der beste Schutz gegen die „Vorschuss-Falle“ ist eine gesunde Skepsis und ein Anwalt, dessen einzige Loyalität dem Künstler gilt.