Was auf den ersten Blick wie der Traum eines jeden Musikers aussieht – ein Anruf vom Major-Label und ein Scheck über 20.000 oder 50.000 Euro –, entpuppt sich oft als kalkulierter strategischer Schachzug, bei dem es nicht um die Förderung von Kunst, sondern um die Sicherung von Marktanteilen und Rechte-Akkumulation geht.

1. Das Missverständnis des Wortes „Vorschuss“

In der Musikindustrie ist ein Vorschuss (Advance) kein Geschenk und auch kein Gehalt. Es ist ein Darlehen, das gegen künftige Einnahmen verrechnet wird (Recoupable).

  • Der Haken: Solange der Musiker diesen Betrag nicht durch Verkäufe oder Streams „eingespielt“ hat, sieht er keinen einzigen weiteren Cent an Tantiemen.
  • Da Labels bei Newcomern oft extrem niedrige Beteiligungen (z. B. 15–20 % der Netto-Einnahmen) festlegen, muss der Song Millionen von Streams generieren, nur um einen kleinen Vorschuss zurückzuzahlen.

2. Gezieltes „Shelfing“: Der Konkurrenten-Check

Warum sollte ein Label Geld bezahlen und dann nichts für die Vermarktung tun? Das klingt unlogisch, ist aber strategisch brillant:

  • Marktbereinigung: Ein Major-Label sieht einen Newcomer auf TikTok, der einen ähnlichen Vibe hat wie ihr aktueller Top-Star. Um zu verhindern, dass dieses Talent zu einem anderen Label geht oder unabhängig so groß wird, dass es dem Top-Star Konkurrenz macht, „kauft“ man es vom Markt weg.
  • Risikominimierung: Man gibt dem Künstler einen Vorschuss, sichert sich die Exklusivrechte für die nächsten Jahre und tut dann… nichts. Der Künstler ist blockiert, darf unter seinem Namen nirgendwo anders veröffentlichen und verschwindet in der Versenkung. Das Label hat für einen relativ geringen Betrag einen potenziellen Konkurrenten ausgeschaltet.

3. Die Rechte-Falle: Eigentum auf Lebenszeit

Das eigentliche Ziel dieser Verträge sind die Master-Rechte. In den meisten Major-Verträgen unterschreibt der Künstler, dass die Aufnahmen (die „Master“) für die gesamte gesetzliche Schutzfrist (oft 70 Jahre nach Tod) dem Label gehören.

  • Wenn der Künstler den Vorschuss nicht einspielt (was ohne Marketing-Budget des Labels fast unmöglich ist), bleibt er beim Label verschuldet.
  • Selbst wenn das Label den Künstler nach zwei Jahren fallen lässt (Dropped), behalten sie meistens die Rechte an den Songs, die während der Laufzeit entstanden sind. Diese landen dann im riesigen Katalog des Majors und generieren über Jahrzehnte passiv Geld durch Playlists – Geld, das der Künstler nie sieht, weil es mit seinem alten „Schuldenberg“ verrechnet wird.

4. Die „Broken Talent“ Strategie

Manche Insider behaupten, dass das Ziel gar nicht der Erfolg des Künstlers ist, sondern dessen finanzielle Abhängigkeit. Ein verschuldeter Künstler ist verzweifelt und unterschreibt später fast jeden Ergänzungsvertrag oder stimmt Deals zu (z. B. 360-Grad-Deals, bei denen das Label auch an Merchandising und Live-Auftritten mitverdient), nur um wieder Licht am Ende des Tunnels zu sehen.

Das Startup-Prinzip im negativen Sinne

Die Majors agieren hier wie Risikokapitalgeber, aber mit einer Versicherung: Sie streuen kleine Beträge auf hunderte Talente. Wenn einer durch Zufall (Algorithmus-Glück) explodiert, kassieren sie alles. Wenn die anderen 99 scheitern, gehört ihnen trotzdem deren geistiges Eigentum für die nächsten 70 Jahre.

Was kannst du tun? Heutzutage ist der wichtigste Rat für junge Musiker: Unterschreibe niemals einen Major-Deal ohne einen spezialisierten Anwalt für Medienrecht, der nicht vom Label bezahlt wird. Oft ist es besser, unabhängig zu bleiben, 100 % der Rechte zu behalten und langsamer zu wachsen, als seine gesamte musikalische Identität für einen Scheck zu verkaufen, den man am Ende teuer mit seiner Freiheit bezahlt.